Ich hielt die beiden bisher gern voneinander getrennt, da meine Kollegen in beiden Leben nur wenig für die Wunder, die Rätsel und schlicht die Freude übrig haben, die mir das jeweils andere bietet.
Jetzt beginnt sich das zu ändern. Ich schreibe diese Artikel über Pokerstrategie, und ich möchte versuchen, ihnen ein bisschen mehr Leben einzuhauchen. Deshalb verwende ich einen Ansatz, der meines Wissens noch ein absolutes Novum ist.
Ich werde in diesem Artikel mehrere psychologische (das ist nämlich mein Beruf) Thesen formulieren und darstellen, wie jede davon dabei helfen kann, korrekte Entscheidungen zu treffen, strategische Fähigkeiten zu verbessern und, natürlich, die Gewinne zu steigern.
Ich beginne mit einem Thema, dem ich schon jahrelange Forschung gewidmet habe. Der Fachausdruck dafür lautet „implicit processing", was etwa so viel bedeutet wie „automatische Informationsverarbeitung". Sie sind dort am Werk, wo Leute Dinge sagen wie „ich weiß nicht genau, warum ich mir das schon gedacht hatte; ich spürte es irgendwie intuitiv", oder „Ich habe instinktiv gehandelt, ohne darüber nachzudenken."
Kurz gesagt, ich habe untersucht, warum und wie oft Menschen richtige Entscheidungen treffen, ohne zu wissen, warum dies der Fall ist.
Schon gut, schon gut, ich weiß: Sie sind jetzt schon gelangweilt. Sie denken: „Dieser Professor kommt mir jetzt mit irgendwelchen abgedroschenen Phrasen - und ich werde am Ende genauso viel wissen wie vorher." Keine Sorge, die Vorlesung ist beendet. Jetzt geht's um Poker.
Doyle Brunson schrieb in seinem Klassiker Super System, er habe den Eindruck, dass an den Pokertischen viele Informationen nur unterbewusst wahrgenommen werden. Er fragte sich, ob sein Bild vom Spielstil der Gegner einfach aus dem Nichts in seinem Kopf entstand. Über diesen Abschnitt ist viel geschrieben worden, hauptsächlich darüber, ob Brunson mit seiner Überlegung Recht hat und wenn ja, warum.
Nun, wie sich zeigt, weiß man darüber heute eine ganze Menge. Und ja, Brunson hatte im Grunde Recht (wie üblich), aber das Thema ist kompliziert.
Die relevanten Fragen:
1. Was ist „Intuition" überhaupt? Eigentlich ist es ein vages, eher unterbewusstes Gefühl, wie eine entfernte Stimme, die „Wirf die Hand weg, jetzt", oder so etwas flüstert. Es ist ein unklares, ungenaues Gefühl. Plötzlich denkt man: „Call, er wird den Turn checken", oder „jetzt re-raisen, das ist ein Steal".
Manchmal durchfährt es einen auch so: „Oh verdammt, schlechter Call." Man hört die innere Stimme zwar, weiß aber nicht, wo sie herkommt. Gelegentlich erkennt man im Nachhinein, was der Auslöser war, aber nicht immer, und selten ist es offensichtlich.
2. Ist Intuition ein „sechster Sinn"? Nein. Zunächst ist schon mal die Nummerierung falsch. Wir haben mindestens 15 Sinne. Wenn Sie mir nicht glauben, lesen Sie einen Fachartikel zu dem Thema. Außerdem wird der „sechste Sinn" gerne dargestellt, als wäre er etwas Übernatürliches, Paranormales.
Ich möchte hier keinen Streit vom Zaun brechen, aber das Übernatürliche gibt es nicht. Intuition ist etwas sehr Bodenständiges, das jeder besitzt.
3. Findet Intuition im Unterbewusstsein statt? Ja. Unser Gehirn versucht ständig, in allem, was um uns herum vorgeht, Muster zu entdecken, ohne dass wir dies bemerken. Beispiel gefällig? Jeder spricht und versteht mindestens eine Sprache. Die Regeln, die die Reihenfolge und Bedeutung der einzelnen Worte bestimmen, sind nicht einmal von Linguisten vollständig zu entschlüsseln.
Dennoch haben wir diese Regeln schon als Kinder gelernt - ohne uns dabei bewusst anzustrengen. Wir haben einfach das übernommen, was um uns herum gesprochen wurde. Intuitives Wissen wird genauso erworben - sei es in der Sprache oder bei Poker.
4. Ist Instinkt ein Bauchgefühl? Nicht wirklich. Mit „Bauch" ist in diesem Zusammenhang eine emotionale Komponente gemeint, aber in Wirklichkeit arbeitet dabei nur das Gehirn. Es wird Instinkt genannt, weil es so normal und natürlich erscheint.
Instinkte sind eigentlich biologisch determinierte, automatische Reaktionen. Implizites Wissen wird erlernt. Aber wir sprechen hier über Poker und nicht über Evolutionsbiologie. Nennen Sie es also, wie Sie möchten.
5. Hilft sie bei der Entscheidungsfindung? Ja, aber nur teilweise. Das System funktioniert „hinreichend", es liefert „recht gute" Entscheidungshilfen.
Perfektion erreichen Sie nur durch bewusste Kontrolle. Da Poker aber ein Spiel ist, das auf Teilinformationen beruht, ist Intuition durchaus hilfreich.
6. Kann man Intuition lernen? Ja, aber das erfordert viel Übung. Es geht darum Muster zu erkennen, und das dauert eben seine Zeit. Je mehr Zeit man mit dem Spiel verbringt, desto sensibler wird man für die Details - auch wenn man Sie dazu drängt, das Erlernte Anderen mitzuteilen.
Aufmerksamkeit ist ebenfalls entscheidend; wer sich auf das Spiel und die Gegner konzentriert, verbessert seine Intuition schneller.
7. Haben gewisse Leute (Frauen) eine bessere Intuition als andere? Nein. Eine bessere Intuition resultiert aus längerer Erfahrung oder größerer Aufmerksamkeit. Die intuitiven Fähigkeiten an sich sind bei jedem Menschen etwa gleich angelegt.
Wenn es so etwas wie „weibliche Intuition" gibt, dann deshalb, weil Frauen im Umgang mit anderen aufmerksamer sind und zwischenmenschliche Verhaltensmuster sehen, die Männer ignorieren. Am Pokertisch sind jedoch alle gleich.
8. Arbeiten Profis mit Intuition, und wenn ja, wie? Natürlich tun sie das. Top-Profis verbringen zahllose Stunden mit Poker und sammeln so zahllose unterbewusste Informationen. Außerdem bemerken sie, wenn ihre innere Stimme ihnen etwas Wichtiges zuflüstert.
Dieses „ich-habe-bei-dieser-Hand-so-ein-Gefühl"-Gerede werden Sie von einem Profi niemals hören. Wenn sie so etwas sagen wie „ich glaube, das wird wieder eine große Hand", ist das nichts als Phrasendrescherei. Dieser „Glauben" ist so zuverlässig wie ein Hexenbrett.
Wie bitte, was sagen Sie da? „Na toll, ich habe immer noch keinen vernünftigen Ratschlag bekommen, der mir hilft, mein Spiel zu verbessern?“ Eigentlich haben Sie das doch. Aber es gibt noch mehr, dass Sie über Intuition beim Poker spielen lernen können. Schauen wir uns das genauer an.
Pokerbücher lesen
Als ich damit anfing, Bücher über Poker zu lesen – leider tat ich das erst einige Zeit, nachdem ich damit angefangen hatte, Poker zu spielen – fiel mir immer wieder auf, mit welcher Sicherheit die Autoren die Stärke einzelner Hände bewerteten, obwohl das gar nicht meiner Wahrnehmung entsprach.
Ich mochte Hände wie K-Q, egal in welcher Farbe. Eine ziemlich gute Hand, dachte ich. Ich erhöhte damit aus früher Position, bezahlte Raises damit, und gelegentlich setzte ich sogar einen Re-Raise damit an.
Aber die Bücher widersprachen. Außerdem wurde mir langsam klar, dass gute Spieler diese Hand für problematisch hielten und rieten, sie mit großer Vorsicht zu spielen, wenn überhaupt.
Das verstand ich nicht. Für mich sah sie immer noch wie eine klasse Starthand aus. Sie war besser als die meisten anderen Hände und sie hatte sooooo viel Potenzial, vor allem suited. Und sie sah einfach hübsch aus.
Doch das Leben ändert sich. Jedesmal, wenn ich K-Q bekam, bekam ich ein merkwürdiges Gefühl, so ein leichtes, aber unangenehmes Pieksen. Dasselbe passiert, wenn ich abgelaufene Wurst im Kühlschrank finde oder im Radio „Last Christmas“ läuft.
Dabei dachte ich mir eigentlich nichts groß dabei. Es war nicht so, dass ich mich bei dem Gedanken erwischte: „Oh Man, die Karten sind ja viel zu bunt. Ich hasse bunt.“ Oder: „Oh, König-Dame. Bekanntlich kann diese Hand problematisch sein. Ich spiele besser vorsichtig.“
Es war mehr eine intuitive Reaktion. Ein kleiner, abgelegener Teil meines Gehirns sendete negative Gefühle aus.
Im besten Fall kommt Ihnen das bekannt vor. Alle guten Spieler erleben das. Ich gehe sogar so weit, zu behaupten, dass diese vagen Erkenntnisse, dass eine Hand schwierig zu spielen ist und die andere nicht, die Basis sind für die Empfehlungen, die wir in so vielen Pokerbüchern lesen.
Ein Beispiel dazu
Das Ganze funktioniert ungefähr so: Ein Typ setzt sich an den Tisch und fängt an, Poker zu spielen. Kriegt ein paar gute Hände, spielt sie auf verschiedene Weise. Gewinnt, verliert, fängt wieder von vorne an.
Und so geht es weiter, über Stunden, Tage, Monate, Jahre. Langsam wird der Typ ziemlich gut.
Warum? Weil er jetzt Hände wegwirft, die er anfangs noch gespielt hat, und jetzt Hände spielt, die er anfangs noch weggeworfen hat.
Warum tut er das nur? Weil er immer wieder dieses merkwürdige Gefühl bekommt, dass eine gewisse Hand gerne mit dem Verlust des gesamten Stacks einhergeht, und das eine gewisse Spielweise häufig sofortige Kopfschmerzen und den Abdruck der eigenen Hand auf der Stirn zur Folge hat.
Wie bitte, was sagen Sie da? „Na toll, ich habe immer noch keinen vernünftigen Ratschlag bekommen, der mir hilft, mein Spiel zu verbessern?“ Eigentlich haben Sie das doch. Aber der Ratschlag ist gut versteckt. Gehen wir suchen.
Pawlowsche Konditionierung
Womit wir es hier zu tun haben, ist Psychologie für Anfänger: Pawlowsche Konditionierung. Sabbernde Hunde.
Davon haben Sie gehört, oder? Pawlow läutete eine Glocke und fütterte dann seine Hunde. Immer wieder. Irgendwann konnte Pawlow allein durch das Läuten der Glocke die Hunde zum Sabbern bringen, ohne ihnen Fressen zu zeigen.
Das funktioniert auch anders herum. Pawlow läutete eine Glocke und verpasste dann einem Hund einen Elektroschock. Das Tier spürt den Schmerz und die Angst und jault. Immer wieder.
Schließlich reicht das Läuten der Glocke aus, um den Hund zum Jaulen zu bringen, weil er sofort Angst bekommt. Konditionierung.
Verstehen Sie, worum es mir geht? Ein Spieler bezahlt mit K-Q aus mittlerer Position einen UTG Raise von einem „Rock“. Verliert sein Geld. Spürt Schmerz und leidet. Immer wieder.
Irgendwann bekommt er wieder K-Q in mittlerer Position. Aus früher Position erhöht ein solider Spieler. Unangenehmes Gefühl macht sich breit, wie der Anflug eines Schmerzes. Fold.
Im letzten Schritt macht sich unser Held diese Erfahrung zunutze und wendet sie bewusst an. Dank seines messerscharfen Verstandes und seiner ausgeprägten kognitiven Fähigkeiten erkennt er, das K-Q gerade problematisch geworden ist.
Der Spieler setzt sich hin und schreibt ein Buch, in dem steht, dass K-Q eine Hand ist, die man mit Vorsicht genießen sollte. Ein Anfänger liest das Buch, versteht aber nicht wirklich, was das bedeutet. Als der das nächste Mal K-Q bekommt, denkt er, „prima Hand, ich calle“.
Jetzt macht dieser Artikel langsam Sinn, ja er erklärt sogar das eine oder andere.
So nämlich sind die Hand Rankings entstanden. Jetzt verstehen wir die Rolle, die Intuition für uns spielt, und wir verstehen, warum Übung so eminent wichtig ist.
Ohne all die Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre der Praxis können wir die Bandbreite der verschiedenen Situationen gar nicht erfassen, in die wir am Tisch geraten, und ohne sie können wir auch nicht intuitiv reagieren. Und, jetzt verstehen wir auch, warum es so viele Internetspieler gibt, die so schnell und so gut sind.
Eine Kleinigkeit muss ich noch loswerden. An der Universität von Iowa gab es ein Experiment, das von Neurologen durchgeführt wurde. Es bestand in einem einfachen Kartenspiel, bei dem man Karten von zwei verschiedenen Decks ziehen konnte.
Deck A war so manipuliert, dass es eine extreme Varianz besaß. Man konnte große Gewinn, aber auch große Verluste einfahren. Auf lange Sicht besaß es einen negativen Erwartungswert, es kostete also Geld, damit zu spielen.
Deck B war ausgeglichener strukturiert, ohne große Gewinne oder Verluste. Auf lange Sicht hatte es einen positiven Erwartungswert. Die Erwartungswerte waren aber nicht sehr unterschiedlich. Man musste ziemlich genau aufpassen, um sie überhaupt zu erkennen.
Alle Spieler trugen während des Experiments einen fMRT, damit die Wissenschaftler ihre Gehirne beobachten konnten. Immer, wenn jemand von Deck A zog, wurden plötzlich die Gehirnareale aktiv, die mit unangenehmen Gefühlen in Verbindung gebracht werden, und das geschah, bevor die Spieler verstanden hatten, worin sich die beiden Decks unterschieden.
Als man sie später drauf ansprach, erklärten sie, dass sie irgendwie ein ungutes Gefühl hatten, wenn sie an dieses Kartendeck dachten, aber sie wussten nicht recht, wieso. Ein Teil ihres Gehirns wusste es aber bereits, es wusste, bevor sie wussten.
Fazit
Das ist Intuition, und darin liegt auch unsere Lektion für heute. Üben, üben, üben und auf die innere Stimme hören. Wenn Sie das merkwürdige Gefühl bekommen, Chips zu riskieren sei gerade keine gute Idee, hören Sie darauf.
Sie werden damit nicht immer richtig liegen, aber gerade oft genug, um Geld zu verdienen. Topspieler auf der ganzen Welt handeln so, und viele Pokerbücher basieren darauf.
Und wenn Sie etwas in sich gehen, auf ihre innere Stimme hören und sich etwas mit Pokerbüchern auseinandersetzen, werden sie schnell merken, dass sich Ihre Intuition verbessert. Die innere Stimme wird Ihnen immer häufiger nützliche Dinge ins Ohr flüstern. Mit der Zeit werden Sie ein geradezu meditatives Verständnis für das Spiel entwickeln.
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