Stellen Sie sich mal die gesamte Poker-Community vor. Wo würden Sie sich da qualitativ selbst in etwa einordnen? Ziemlich weit oben, oder?
Oder etwa im unteren Drittel? Kommen Sie. Selbst als gelegentlicher Hobbyspieler sind Sie doch längst überdurchschnittlich qualifiziert, richtig?
Kann natürlich sein. Gute Pokerspieler haben Talent, und man kann auch ein guter Spieler sein, ohne sich täglich acht Stunden damit zu beschäftigen.
Leider ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass Sie sich überschätzen. Aber machen Sie sich nichts daraus, das geht vielen so. Der Grund dafür ist der Dunning-Kruger-Effekt.
Der Dunning-Kruger-Effekt
Die beiden Wissenschaftler, die dieses Phänomen erstmals 1999 beschrieben haben, hatten ein Experiment durchgeführt, in dem sich die Probanden einer Reihe von Tests zur Allgemeinbildung unterzogen.
Danach wurden sie gebeten, ihre Leistung selbst einzuschätzen. Erstaunlicherweise kam niemand zu der Auffassung, einfach schlecht gewesen zu sein. Vielmehr fanden sich alle Teilnehmer gut bis sehr gut, wobei die tatsächlich fähigen oft noch deutlich besser abgeschnitten hatten, als sie vermuteten.
Die Diskrepanz zur Wirklichkeit war jedoch bei denen am größten, die die schlechtesten Testergebnisse aufwiesen.
Im zweiten Teil der Tests sollten nun die 25% besten und 25% schlechtesten Versuchspersonen die Ergebnisse der jeweils anderen Gruppe auswerten. Danach wurden sie ein weiteres Mal gebeten, die eigene Leistung zu bewerten.
Nun geschah folgendes: Die begabtere Gruppe erkannte, wie gut die eigenen Ergebnisse waren im Vergleich zu dem, was sie nun zu sehen bekamen. Folgerichtig schätzten sie sich nun besser ein als vorher.
Die Gruppe der unfähigen Teilnehmer aber zeigte keineswegs denselben Effekt. Obwohl sie die deutlich besseren Antworten der anderen Gruppe direkt vor Augen hatten, konnten sie daraus nicht die Erkenntnis ziehen, dass sie selbst an den Aufgaben gescheitert waren.
Vielmehr schätzen sie die eigenen Leistungen weiterhin viel zu hoch ein. Inkompetente Menschen werden sich ihrer Inkompetenz auch dann nicht bewusst, wenn man sie mit Kompetenz konfrontiert.
Mit anderen Worten: Doof bleibt doof, da helfen keine Pillen? Nein, ganz so ist es dann doch nicht. Hilft man nämlich dem Mangel an Bildung ab, der Teil der Inkompetenz ist, dann verbessern sich auch die Leistungen der Probanden.
Und damit kommen wir zum faszinierendsten Teil des Dunning-Kruger-Effekts: Je mehr sich die schwächeren Teilnehmer steigerten, desto schlechter schätzten sie sich selbst ein.
Erst durch zusätzliches Wissen gelangten sie zu der sokratischen Erkenntnis: „Ich weiß, dass ich nicht(s) weiß.“
Dunning-Kruger am Pokertisch
Denken Sie mal an die Fußball-WM zurück. In Dutzenden von Ländern schrieben zig Millionen Fans Milliarden von Kommentaren zu Aufstellung, Strategie und Taktik der jeweiligen Lieblingsmannschaft.
Keiner davon hatte wirklich Recht, was maßgeblich damit zu tun hat, dass niemand die Qualifikation für den Bundestrainerjob besaß. Trotzdem waren sie davon überzeugt, es besser zu wissen.
Im Poker ist das ganz ähnlich. (Ich glaube, dass es teilweise sogar dieselben Leute sind, aber ich kann es nicht beweisen.)
Man kennt das doch aus den einschlägigen Foren. Die überwältigende Mehrheit der Hobbyspieler hält sich für großartig, und der Umstand, dass sie Geld verlieren, ist Betrug geschuldet. Mindestens. Pech reicht gar nicht.
Dieser angebliche Betrug kann in verschiedenen Formen auftreten. Im Bereich Online-Poker wird zumeist einfach behauptet, dass die Software der Online-Anbieter manipuliert werde.
Offenbar stehen zahlreiche Spieler unter dem Eindruck, unter Wert geschlagen zu werden, aber niemand hat das Gefühl, besonders viel Glück zu haben.
Selbst nach Lesen von tausenden von Forenbeiträgen ist mir kein Fall untergekommen, in dem sich jemand auf der „richtigen“ Seite des Doomswitch wiedergefunden hat.
Aus menschlicher Sicht ist das verständlich, denn man würde sich ja quasi als schlechter Spieler outen, dem von der Anbietersoftware geholfen werden muss.
Aus mathematischer Sicht kann an dieser Wahrnehmung aber offenbar etwas nicht stimmen.
Dass ein Anbieter wie PokerStars, der eine achtstellige Zahl von Spielerkonten verwaltet, in der Lage ist, jeden einzelnen Account zu überwachen und zu steuern, erscheint einem (zugegebenermaßen) Computerlaien wie mir zumindest unwahrscheinlich.
Gerne wird auch vermutet, dass Spieler aus einzelnen Ländern bevorzugt werden, die außerdem auch noch durch besonders erratisches Spiel bestechen.
In europäischen Foren sind die beliebteste Zielscheibe „die Russen“. Sie werden des schlechten Spiels bezichtigt und dafür auch noch durch Suckouts „belohnt“, während die „guten“ Spieler bestraft werden, wofür auch immer.
Bei den „Geschädigten“ handelt es sich im Übrigen immer um reine Hobbyspieler. Nicht um Regulars, die große Mengen an Rake generieren, sondern Low Stakes Spieler, die gelegentlich abends oder am Wochenende am Tisch sitzen und logischerweise nicht zu den stärksten Spielern gehören.
Also genau die Zielgruppe, die von der Anbietersoftware eigentlich bevorzugt werden müsste.
Wer hier seinen Denkfehler nicht erkennt, unterliegt dem Dunning-Kruger-Effekt.
Was übrigens passiert, wenn Profis glauben, dass etwas faul ist, haben wir vor einigen Jahren am Beispiel des Absolute Poker Skandals gesehen.
Die Verschwörungstheoretiker beklagen sich im Grunde nicht darüber, dass andere bevorzugt werden, sondern dass sie selbst – zumindest ihrem subjektiven Empfinden nach – eben nicht bevorzugt werden.
Dass Spieler aus bevölkerungsreichen Ländern zwangsläufig häufiger gewinnen als solche aus bevölkerungsarmen, sei hier nur am Rande erwähnt.
So gewannen russische Spieler z. B. die meisten Events bei der WCOOP 2014, jedoch nur eines mehr als die Spieler aus Kanada, unter denen sich bekanntlich zahlreiche US-amerikanische Profis befinden, die aus rechtlichen Gründen den Weg in den Norden gegangen sind.
So gleicht sich die fünf Mal so große Bevölkerung Russlands wieder aus.
Ein schönes Beispiel aus der Praxis
Eines Abends setzte ich mich zu einer Partie 8-Game online. Gleich in der zweiten Hand – gerade war PLO an der Reihe – erwischte ich ein Full House auf dem River und nahm meinem Gegner, der einen Flush hielt und groß gesetzt hatte, den ganzen Stack ab.
Nach der Pokermathematik hatte ich schlecht gespielt, die Odds waren gegen mich, ich hätte meine Hand eigentlich aufgeben müssen, und am Ende hatte ich einfach Glück.
Das ist mir klar, aber das ist gar nicht der Punkt.
Denn nach dieser Hand begann mein Gegner, der offenbar deutlich angeheitert war, damit, mich über meine ganze 90 Minuten lange Session fast ununterbrochen per Chatbox unflätig zu beschimpfen.
Außerdem bezichtigte er mich des Betrugs und behauptete, sich ständig Notizen zu machen, um mich zu überführen.
Dann ging er dazu über, nur noch seine besten Hände zu spielen und damit grundsätzlich das Maximum zu setzen. Daneben zahlte er mich häufig mit schlechteren Händen aus, nur um nicht vorhandene Bluffs zu entlarven.
Seine Wut und sein Frust wurden so groß, dass er darüber die Kontrolle über sein Spiel verlor. Selten war es für mich so einfach, zu gewinnen, während er sich mit jeder verlorenen Hand darin bestätigt sah, betrogen zu werden.
Wer nach einem einzigen Bad Beat derartig die Fassung verliert, verliert auch den Blick für die Realität.
Frust und wie man damit umgeht
Lassen wir damit den eingebildeten Frust der Lernunfähigen oder –willigen beiseite. Sie werden weiterhin trotzig mit dem Fuß aufstampfen und erklären, sie wüssten es besser.
Schließlich funktionieren Verschwörungstheorien vor allem deshalb so gut, weil jedes Argument dagegen auch ein Argument dafür ist.
Für den Verschwörungstheoretiker ist jeder Gegenbeweis nur ein Zeichen dafür, wie gut die Verschwörung an sich organisiert ist. Und nur er ist schlau genug, das zu erkennen.
Wenden wir uns aber dagegen dem wahren Frust zu, der nach demselben Prinzip entsteht wie oben erwähnt: Je besser wir werden, desto mehr erkennen wir, wie gut andere tatsächlich sind. Das kann deprimierend sein.
Wer erst damit begonnen hat, sich mit Poker zu beschäftigen, ist von dem, was er im Fernsehen sieht, zumeist fasziniert, weil er es nur bedingt versteht.
Je mehr Pokershows man gesehen hat, und je mehr Praxis man selbst besitzt, desto größer das eigene Verständnis, desto mehr erkennt man jedoch auch Unterschiede.
Übertragungen wie die des WSOP Main Events bleiben immer unterhaltsam, denn das Niveau der Spieler ist mit dem eigenen oft vergleichbar, und die meisten Spieler scheinen außerdem auch noch eine Menge Spaß zu haben.
Und das bei diesem enormen Preisgeld. Der Main Event ist schlicht großartig.
Ganz anders sieht es bei High Stakes Cash Game Shows aus. Hier erkennt erst der geübte Hobbyspieler, auf welcher Ebene manche Profis das Spiel spielen, und dass dort Gedankengänge getätigt werden, zu denen man selbst einfach nicht in der Lage ist.
Manche sind so komplex, dass man sie nicht einmal nachvollziehen kann. So genannte „Hero Calls“ etwa mit König hoch sind meist ebenso wenig leichtfertige Entscheidungen wie ein aufgegebenes Full House.
Dennoch sitzt man kopfschüttelnd vor dem Monitor, denn zu diesen Entscheidungen wäre man selbst nicht gekommen.
Der dadurch entstehende Frust ist echt, und so ziemlich jedem, der zu der Erkenntnis gelangt, niemals diese Niveaus erreichen zu können, stellt sich irgendwann die Frage, ob er das Spiel nicht besser aufgibt.
Das Spiel ist das Ziel
Aber verzweifeln Sie nicht, die Lösung ist ganz einfach. Wenn Sie ein bisschen Erfahrung gesammelt haben, dann wissen Sie, dass in einem Online-Turnier für einen Dollar Buy-in anders gespielt wird als in einem $10-Turnier, und in diesem wieder anders als in einem für $50.
In den Cash Games gilt natürlich dasselbe. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Also glauben Sie nicht an die Sprüche aus dem Fernsehen, wenn es dort heißt, man müsse „gegen die Besten spielen, um bei den Besten zu sein“ usw.
Spielen Sie gegen die schlechtesten, gegen die Beschimpfer, gegen die Verschwörungstheoretiker, gegen die Opfer des Dunning-Kruger-Effekts. Dort liegen die besten Chancen.
Es ist kein Zufall, dass auch in den großen $10 MTT regelmäßig Team Profis und Regulars mitspielen.
Glauben Sie auch nicht an den Unsinn, das einzige Ziel für Pokerspieler sei der Geldgewinn. Poker ist unser Hobby, nicht unser Beruf!
Wir spielen, weil es Spaß macht! Wer nebenher Fußball spielt, hört ja auch nicht auf, nur weil mal drei Spiele verloren gehen. So mancher verliert während des abendlichen Kicks doch das Tore Zählen sowieso aus den Augen.
Jedes Hobby kostet Geld. Warum nicht auch Poker?
Das Besondere am Hobby Poker ist, dass die Chance darauf besteht, Geld zu gewinnen. Die Chance, nicht das Recht.
Ganz, ganz, ganz viel Liebe meinerseits für den Artikel! Großartig, und so hervorragend nachzuvollziehen 🙂