Reziprokalität
In meinem anderen Leben tue ich andere Dinge. Eins davon ist Lexikographie. Ich schreibe Wörterbücher.
Wir Wortschmiede sind harmlose Leute, und scherzhaft werden wir manchmal als „Lohnsklaven“ bezeichnet, aber wir haben eine Funktion. Wir versuchen, den Gebrauch der Sprache in die richtigen Bahnen zu lenken. Wir wollen sie nicht eingrenzen, sondern vielmehr formen, ihre Grenzen ausloten und konnotative Einsichten veröffentlichen.
Wenn mir ein neues Wort begegnet, laufe ich gerne ein bisschen damit herum und trainiere seine Verwendung. „Reziprokalität“ war dafür sehr gut geeignet. Ich konnte damit so viel üben, dass ich wohl sogar ein paar Pfund abgenommen habe. Jedenfalls brach mir mehrfach der Schweiß aus.
Das Wort habe ich von Tommy Angelo, dessen Buch Elements of Poker mich beeindruckt hat und auf das ich mich hier beziehe. Dieser Mann hat was über Poker zu sagen. Er liebt Poker. Und er liebt es, anderen Leuten etwas darüber beizubringen.
Interessanterweise stehen in seinem Buch kaum konkrete Pokertipps, und zwar hauptsächlich, weil er davon überzeugt ist, dass man diese nur einzelnen Spielern zukommen lassen sollte. Stattdessen spricht er lieber über das Leben, allgemeine Theorien und darüber, wie man Poker aus einer neuen Perspektive betrachten lernt.
Zu seinen innovativen Ideen gehört das Konzept der Reziprokalität. Mein Rechtschreibprogramm mag das Wort überhaupt nicht. Tommys Neologismus war notwendig, weil sich dahinter eine Lektion verbirgt, die man vorher nicht so einfach mit einem Wort erklären konnte. So entstehen übrigens eine Menge neue Worte.
Das Wort leitet sich allerdings von einem bereits existierenden Begriff ab: „reziprok“. Das Wörterbuch der Psychologie definiert es folgendermaßen: „Reziprok beschreibt ein Verhältnis, in dem die beteiligten Elemente in koordinierter Wechselbeziehung zueinander stehen.“
Gar nicht schlecht, wenn auch ein bisschen ungelenk. So definiert Tommy Angelo seinen Begriff:
„Jeder Unterschied zwischen Ihnen und Ihren Gegnern, der Ihr Verhalten beeinflusst.“
Das ist klarer und bringt es auf den Punkt. Sehr schön. Ich schreibe für Akademiker, er für Pokerfreaks. Aber wir haben beide dieselben grundlegenden Ansichten.
Angelo fährt fort: „Reziprokalität bedeutet, dass in einer Situation, in der Sie und Ihr Gegner sich gleich verhalten, kein Geld fließt. Wenn Sie sich aber unterschiedlich verhalten, fließt Geld.“
Und das scheint mir eine der wichtigsten Pokertheorien zu sein, denen ich je begegnet bin. Sie ist für die Entwicklung guten Spiels genauso wichtig wie der alte Klassiker: „Hohe Paare spielen sich heads-up besonders gut.“ Das neue Konzept ist allerdings komplexer, und es bedarf genauerer Analyse, um es in die Praxis umzusetzen.
Damit Sie verstehen, warum Sie hier einem Juwel der Pokertheorie begegnet sind, lassen Sie sich die folgende Aussage einmal genüsslich auf der Zunge zergehen:
„Vor dem Flop gewinnen Pocket Asse kein Geld.“
Jetzt verziehen Sie bitte nicht das Gesicht. Sehen wir uns diese Aussage mal aus der Perspektive der Reziprokalität an. Fast jeder spielt Asse auf dieselbe Weise: Mit einem Raise oder einem Reraise.
Bei Limit Hold’em wird einfach gebettet wie nichts Gutes. In No Limit versucht man, ein wenig zu lavieren und die Chips irgendwie in vor dem Flop die Mitte zu bringen.
Damit sind Pocket Asse vor dem Flop gar nicht mehr so wichtig, und zwar hauptsächlich, weil jeder damit auf dieselbe Weise umgeht. Es gibt also keine Reziprokalität.
Ich will damit nicht sagen, dass Sie sich nicht freuen sollten, wenn Sie Asse bekommen. Ihr Wert entwickelt sich aber hauptsächlich nach dem Flop. Man muss sie richtig spielen und das Beste daraus machen, oder die Verluste so gut wie möglich eingrenzen, wenn das Board ungünstig verläuft. Handeln Sie nicht nach dieser Maxime, aber ihre Gegner tun es, dann tritt Reziprokalität auf, und sie sitzen im falschen Boot.
Aus Sicht der Reziprokalität fragen wir uns nun folgendes: Welche Hand ist in Hold’em die beste? Oder besser gesagt, welche Gruppe von Händen ist die beste?
Die Antwort lautet: Die Hände, die Sie besser spielen als Ihre Gegner.
Vielleicht gefällt Ihnen diese Antwort nicht, aber so ist es nunmal. Angenommen, Sie sind ein Spezialist für Q-Js, und Sie spielen diese Hand besser als sonst jemand auf der Welt. Was folgt daraus?
Daraus folgt, dass Sie erstens mehr gewinnen, wenn Sie diese Hand halten, als jeder andere, und zweitens, dass Sie weniger Geld verlieren als andere, wenn Sie mit der Hand nicht gewinnen. Dank des Konzepts der Reziprokalität wissen Sie nun, dass das eine gute Hand für Sie ist, und das Sie danach Ausschau halten sollten.
Natürlich gilt es immer, die Größe der Stacks, die Position, die Fähigkeiten der Gegner mit einzubeziehen usw., aber die These steht. Sie ist wahr.
Eine interessante Begleiterscheinung dieses Prinzips: Für richtig gute Spieler sind die proftabelsten Hände meistens marginale wie T-8s oder 8-7o.
Und jetzt verstehen wir auch, warum Angelo in seinem Buch keine konkreten Spieltipps für konkrete Situationen gibt.
Sie sollten also versuchen, die Textur des Spiels besser zu verstehen, sich in Ihre Gegner hineinzufühlen und nach Situationen suchen, in denen die Reziprokalität zu Ihren Gunsten ausschlägt und das Geld in Ihre Richtung fließt.
Jetzt ist auch klar, warum sehr gute Spieler gerne viele Flops sehen. Sie spielen schwierige Hände einfach besser als ihre Gegner.
Falls Sie gerne High Stakes Poker oder ähnliche Shows sehen, haben Sie sicherlich auch schon den Kopf geschüttelt und sich gefragt, wie und warum Tom Dwan oder Antonio Esfandiari eine bestimmte Hand so gespielt haben, wie sie sie eben gespielt haben.
Die Antwort lautet: Sie wissen, dass sie nach dem Flop einfach besser spielen als andere. Sie glauben, und das zu Recht, dass sie die typischen „Problemhände“ besser spielen als ihre Gegner.
Deshalb sind das die Hände, mit denen sie auf lange Sicht Profit erzielen. Es handelt sich schlicht um positive Reziprokalität.
Übrigens wird das Spiel auf dem Flop inzwischen häufiger thematisiert. Ich habe mich dem Thema deshalb in einer kleinen Serie etwas intensiver gewidmet.
Mit reziproken Grüßen,
Arthur Reber
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Mensch, ist ja ein netter Artikel, aber jetzt muss ich doch mal anmerken, dass es das Wort Reziprokalität nicht gibt. Das Substantiv von reziprok heißt auf Deutsch Reziprozität. Damit ist natürlich der Witz des Artikels zum Teil weg bzw. ist jetzt ein anderer, der dem Autor vielleicht nicht ganz so recht ist. Nix für ungut und viele Grüße.
Artikel ist zwar schon etwas alt, aber vielleicht antwortet ja jemand oder sieht es etwas anders: Ist ein besseres Verständis von Nash bei einem Spiel, wo alle nach Nash spielen, reziprok? Bzw. deren Anwendung? Ich denke ja. Ich meine nur ob die Verwendung des Wortes hier auch greift. Ich denke zudem dass es sinnvoll für die Handrange ist diese darauf anzupassen, mit PT3 bzw. jetzt PT4 sieht man ja mit welcher Hand man am meisten Verlust macht und mit welchen am meisten Gewinn. Da können ja Hände wie QQ plötzlich marginal wirken und Hände wie T8s schon wieder wie Premium Hände. Natürlich wird man mit QQ auf Dauer immer mehr Gewinn machen. Aber wenn dies nicht der Fall wäre, würde T8s dann höher in derRange stehen?