Nicht viele Pokerspieler haben einen derart scharfen Intellekt wie die Engländerin Liv Boeree. Sie ist nicht nur eine der talentierten Spielerinnen der letzten Dekade, sie hat auch einen Abschluss in Astrophysik und interessiert sich für Soziales und Politik.
Sie hat bereits Lesungen in Oxford gehalten und war Mitbegründerin der Charity REG. Wir haben mit ihr auf den Bahamas über Politik gesprochen.
Großbritanniens Entscheidung, die Europäische Union zu verlassen, ist kein Bluff. Was waren die Gründe dafür und wie werden die Konsequenzen aussehen? Liv Boeree zeichnet ein düsteres Bild.
PokerListings: Hast du es kommen sehen, Liv?
Liv Boeree: Was? Die Wahl?
PokerListings: Brexit.
Liv Boeree: Nein, habe ich nicht. Es war ein großer Schock – ich habe nicht erwartet, dass gewisse Mainstream-Medien und Politiker derart unverantwortlich sind und so viel Desinformation zu ihrem eigenen Nutzen veröffentlicht haben.
Ich sehe das Ergebnis des Votums als ein Versagen aus mehreren Richtungen: Großbritanniens Regierung hat die Bevölkerung über etwas befragt, bei dem man eigentlich einen Doktor in Wirtschaft haben muss, um es zu verstehen.
Dazu hat die EU die Sorgen der einzelnen Länder nicht ernst genommen und die Wähler in Großbritannien haben nicht die nötige Sorgfalt walten lassen. Sie haben die Daten nicht richtig ausgewertet, Pro und Contra nicht ausreichend gegeneinander abgewogen. Eigentlich hätte alles für einen Verbleib in der EU gesprochen.
Nachdem ich beim Brexit gesehen hatte, wie irrational die Leute sein können, war ich über die Wahl in den USA nicht mehr besonders überrascht.
"Wir können die Probleme der Zukunft nicht lösen, indem wir uns aufspalten"
PokerListings: Die Medien in Kontinentaleuropa ließen es so aussehen, als ob Großbritannien nach dem Brexit in einem Schockzustand ist. Wie ist die Situation wirklich?
Liv Boeree: Ich war nicht in England, als es passiert ist und musste postalisch abstimmen. Die meisten Leute, die ich kenne, haben für den Verbleib in der EU gestimmt. Diejenigen, die dagegen gestimmt haben, sagen teilweise, dass sie es bereuen.
PokerListings: Welcher Generation gehören diejenigen an, die für einen Austritt gestimmt haben?
Liv Boeree: Eher der älteren.
PokerListings: Also stimmt es, dass die ältere Generation "verantwortlich" für den Brexit ist?
Liv Boeree: Naja, die Daten suggerieren es, es liegt aber hauptsächlich an der Regierung, die überhaupt erst so ein lächerliches Votum auf den Weg gebracht hat. Sie hätten die Leute lieber fragen sollen, was sie am Ende wollen.
Die Hauptmotivation derjenigen, die für den Brexit gestimmt haben, war, dass Europa zu viel Macht über sie hat. Angeblich haben sie das Land, in dem sie aufgewachsen sind, nicht mehr erkannt. Sie dachten dann, dass sie etwas dagegen unternehmen müssen.
Es mag sein, dass an der Sache mit der Macht etwas dran ist. Das bedeutet aber nicht, dass die unumkehrbare Situation, dass England nun die Europäische Union verlässt, die beste Lösung ist. Eindeutig ist es langfristig nicht die beste Lösung, vor allem, wenn es um globale Stabilität geht.
Dass die Leute ihr Land nicht mehr erkennen, liegt teilweise einfach daran, dass die Welt sich verändert. Egal, wie es für dich in deiner Teeniezeit war, die Welt kann man nicht einfach in die Siebziger Jahre zurückdrehen. Die Situation ist nun mal so, wie sie jetzt ist.
Wir leben in einer Zeit des exponentiellen technologischen Wachstums und die Herausforderungen sind auf einem viel globaleren Level als in der Vergangenheit. Wir brauchen mehr internationale Kooperation zwischen Nationen, Städten und Kontinenten.
Wir können die großen Probleme der Zukunft nicht lösen, indem wir uns aufspalten. Die Nationalstaaten machten in früheren Jahrhunderten Sinn, wir sind aber jetzt in einer anderen Situation.
"Leider leben wir in einem Universum der willkürlichen Entropie"
PokerListings: Offensichtlich wollen die Leute Kritiker ihrer Regierung sein.
Liv Boeree: Manchmal ja. Einfach nur als Selbstzweck dagegen zu sein, gibt einem eine gewisse Identität, auch wenn es nicht besonders produktiv ist. Wir alle können Opfer dieser Denkweise werden, für manche Leute ist es ein Lebensmotto.
Mein Problem ist, dass so viele Wähler einfach nur ihrem Bauchgefühl gefolgt sind. Sie haben nicht mal versucht, sich alle verfügbaren Informationen anzuschauen und ihre vorgefertigte Meinung in Frage zu stellen.
Ich war auch eine Zeit lang sehr unentschieden, was den Brexit angeht und musste viel lesen. Im Endeffekt kam ich zu dem Schluss, dass es kurz- und langfristig die beste Lösung ist, in der Europäischen Union zu bleiben.
Im Falle von Brexit und Trump gab es viele Menschen, die ein unbestimmtes Gefühl der Unzufriedenheit hatten und sich dachten, dass es gut sei, die Dinge ein wenig aufzumischen.
Natürlich ist ihr Wunsch nach Protest verständlich, es ist aber auch wichtig, zu verstehen, warum man protestiert. Die Konsequenzen einer reinen Protestwahl können schwerwiegend sein.
Leider leben wir in einem Universum der willkürlichen Entropie, das dazu neigt, Ordnung im Chaos zu verwandeln. Es ist also unwahrscheinlich, dass man ein System ohne einen guten Plan für hinterher zerbricht und daraus etwas Gutes entsteht.
Wir haben eine Zivilisation aufgebaut, die, auch wenn sie nicht perfekt ist, immer noch ein besserer Platz zum Leben ist, als irgendwann sonst in der Vergangenheit.
"Fast jeder wird sich irgendwann abgemeldet fühlen"
PokerListings: Willst du damit sagen, dass die Ökonomie und die Technik sich so schnell entwickelt haben, dass der menschliche Geist nicht mithalten konnte?
Liv Boeree: So kann man es ausdrücken. Die technische Entwicklung ist rasant. Es ist für Erwachsene heutzutage hart, damit mitzuhalten, was die jüngere Generation tagtäglich benutzt. Fast jeder wird sich irgendwann abgemeldet fühlen.
Wir reiten diese exponentielle Kurve und wir können sie nicht stoppen. Wir leben in der aufregendsten und zugleich schrecklichsten Zeit. Ein Freund von mir hat darüber etwas geschrieben: Er meinte, dass wenn die Erde eine Reality-Show wäre, wir dem Finale der ersten Season schon sehr nahe sind.
Wir haben in so vielen Bereichen Durchbrüche erzielt, zum Beispiel künstliche Intelligenz, Materialwissenschaften, Energiewissenschaften, Waffentechnik und kämpfen gleichzeitig die ganze Zeit gegen unsere biologische, tierische Natur, die damit einfach nicht mithalten kann.
Populismus zielt auf die Instinkte, die wir vor 10.000 Jahren zum Überleben brauchten. In der heutigen, vernetzten und weitgehend sicheren Welt ist das aber weitgehend kontraproduktiv und potentiell sehr gefährlich.
Es macht mir Angst, dass die Vernunft mittlerweile einer stumpfen Agitation, mit der Absicht, irgendetwas zu tun, dass Bedeutung gibt, gewichen ist. Ich will nicht zu pessimistisch klingen, vielleicht hat der Brexit ja doch positive Folgen.
Mir bereitet es Sorgen, dass andere europäische Länder derselben Krankheit zum Opfer fallen könnten. Italien driftet nach rechts und in Frankreich ist Marine le Pen sehr beängstigend. Der Ausgang der Wahl in den USA macht es schwer, die Zukunft positiv zu sehen.
Ich glaube, dass es immer besser ist, Vernunft und Vorsicht walten zu lassen, wenn es um so viel geht. Viele Menschen auf dieser Welt scheinen dazu nicht mehr in der Lage zu sein.